Simone Drescher mit „Humanity“

Es ist nicht einfach, eine wirklich eigene Stimme zu finden. Eine Stimme, die bewegt. Eine Stimme, die überzeugt und zugleich verlockt. Für junge Musikerinnen und Musiker stellt die Suche nach dieser eigenen Stimme wohl die (vorerst) größte Herausforderung dar.

Welche Strategie zur Selbstpräsentation auf der Bühne soll ich entwickeln? Wie baue ich eine richtige Verbindung mit meinem Publikum auf? Welche Musik wird mir am besten als Kommunikationsmittel dienen? Solche und weitere Fragen müssen sich im Grunde alle Künstlerinnen und Künstler stellen, die erste Karriereschritte machen wollen. Manche beschließen, vergleichsweise innovative Wege innerhalb des dichten Waldes des Standartrepertoires zu beschreiten. Andere tendieren hingegen dazu, den besagten Wald zu durchkreuzen, um neue, bisher praktisch unerkundete Felder bzw. Gebiete zu erreichen. Sie stellen dann ihr höchst individuelles Kernrepertoire aus weniger bekannten und/oder völlig unbekannten Werken zusammen und überraschen die Öffentlichkeit durch Pioniertaten.

Den zweiten Weg ging nun offenbar die junge deutsche Cellistin Simone Drescher bei der Gestaltung des Programmes für ihre Debüt-CD Humanity (GWK Records). Zwei Cellokonzerte von gleich zwei zeitgenössischen Komponisten, d.i. vom Finnen Pehr Henrik Nordgren (1944-2008) und vom Letten Pēteris Vasks (geb. 1946), kommen hier zum Zug. Die beiden Stücke ähneln sich zwar etwas in ihrer Gesamtform – zwei langsame Sätze umrahmen jeweils ein schnelles Zentrum –, ansonsten aber könnten sie kaum unterschiedlicher sein.

Nordgrens Konzert enstand im Jahr 1980 als Auftragswerk für das Kuhmo Kammermusik-Festival. Es weist eine durchaus unkonventionelle Struktur und musikalische Dramaturgie auf: zwei aufeinanderfolgende Vorspiele münden in einen abschließenden Hymnus. Die drei Sätze des Cellokonzerts „Klātbūtne“ (zu deutsch: Gegenwart, gegenwärtig sein) von Vasks, welches erst 2012 durch seine Widmungsträgerin Sol Gabetta in Gent uraufgeführt wurde, zerfallen noch in mehrere Unterabschnitte; so gibt es z.B. zwei umfangreiche Solokadenzen, von denen die erste das gesamte Werk einleitet und die zweite den Mittelsatz unterteilt.

Zwei „Miniaturen“ von Johann Sebastian Bach runden das ungewöhnliche Programm buchstäblich ab: Die sogenannte Aria in c-Moll aus der Pastorale in F-Dur für Orgel BWV 590 dient als eine Art Interludium; das Orgel-Choralpräludium Erbarmʼ Dich mein, oh Herre Gott BWV 721 markiert den Schluss. Die entsprechenden Arrangements für Violoncello und Streichorchester wurden vom Schweizer Dirigenten Simon Schweiwiller angefertigt und im Rahmen des Albums Humanity ersteingespielt.

Auf ihrer in Zusammenarbeit mit dem lettischen Dirigenten Jānis Liepinš und dem Staatlichen Kammerorchester Sinfonietta Rīga entstandenen Debüt-CD wird Simone Dreschers Stimme sehr klar hörbar. Dies übrigens auch im wahrsten Sinne des Wortes. Denn im letzten Satz des Vasks-Konzertes  sowie in Bachs Präludium kann man tatsächlich einige (partiturgemäße!) Gesangseinlagen von ihr bewundern. Ab Anfang Oktober 2022 soll die Aufnahme endlich auf dem Markt erhältlich sein. Angesichts dessen bleibt natürlich zu wünschen, dass die Cellistin mit ihrer eigenen Stimme auch rasch ihr eigenes Publikum gewinnen wird.