
Liv Migdal und Mario Häring mit spätromantischer Kammermusik
Wie faszinierend es ist, neue Horizonte zu eröffnen! Wie bereichernd, neue Perspektiven zu entdecken, innere Grenzen zu verschieben und unbekanntes Terrain zu betreten! Doch für viele Menschen ist das kein selbstverständlicher Weg. Denn nicht selten muss man sich solche Möglichkeiten erst mühsam erkämpfen. So wie auch im Fall der britischen Komponistin und Dirigentin Ethel Smyth (1858–1944).
Deren Lebensgeschichte liest sich wie eine lange Abfolge von Aufbrüchen und Revolten: gegen familiäre Vorstellungen, gesellschaftliche Normen und tief verankerte Rollenzuschreibungen. Gegen den Willen ihres Vaters entschied sich Smyth für eine musikalische Laufbahn und nahm ein Studium am Leipziger Konservatorium auf. Dort hatte sie im Kreis internationaler Talente hart um Anerkennung zu ringen. Doch wiederum war sie bereit, zu kämpfen – um ihre eigene Sichtbarkeit und die Wahrnehmung ihrer kompositorischen Erzeugnisse. Und später noch auf dem Feld der Politik als engagiertes Mitglied der britischen Suffragettenbewegung, für die sie sogar eine zweimonatige Haftstrafe in Kauf nahm. Den Kampf gegen die Gebrechen des eigenen Körpers konnte Ethel Smyth allerdings nicht gewinnen. Eine in der Kindheit erlittene Gehörverletzung führte allmählich zur völligen Taubheit und zu der traurigen Konsequenz, die Tätigkeit als Komponistin und Dirigentin im fortgeschrittenen Alter aufgeben zu müssen.
Ironischerweise blieb auch Smyths Musik in der Zeit nach ihrem Tod unhörbar bzw. ungehört. Erst zu Beginn des 21. Jahrhundert bahnte sich der Durchbruch an, als ihre Werke zunehmend ins Konzertrepertoire aufgenommen wurden. Inzwischen ist außerdem die Zeit für Tonträger gekommen. So setzt die im September dieses Jahres unter dem Titel Beyond Horizons beim deutschen Label Hänssler erscheinende CD von Liv Migdal (Violine) und Mario Häring (Klavier) mit der aus der Studienzeit in Leipzig stammenden Sonate für Violine und Klavier A-Dur op. 7 an. Auf dieses Werk folgen sechs Stücke für Violine und Klavier der schwedischen Komponistin und Violinistin Amanda Maier (1853-1894) sowie die zweite Violinsonate von Edvard Grieg (1843-1907). Beide, Maier und Grieg, hatten wie Smyth am Leipziger Konservatorium (mit zeitlichem Abstand) ihre Ausbildung erhalten und waren einander in Freundschaft verbunden. Im Verbund eröffnen nun alle diese Werke einen neuen Horizont für das Verständnis einer Musikergeneration gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die jenseits nationaler Grenzen nach künstlerischem Ausdruck und Individualität suchte.